Selina Sautner
Der verborgene Wald
Es war einmal ein Mädchen namens Kaia. Sie lebte mit ihrer Großmutter in einem Haus, das in einem verborgenen Wald lag. Dieser Wald war von riesigen Dornenranken umkreist. Niemand konnte hinaus- oder hereingelangen. Kaias Eltern waren schon früh gestorben und sie hatte nur noch ihre Großmutter. Kaia traute sich nie zu fragen, warum die Dornenranken da waren, denn ihre Großmutter hatte es ihr verboten. Die Jahre vergingen und Kaia wuchs zu einer hübschen jungen Frau heran. Als sie achtzehn Jahre alt war, konnte sie es nicht mehr ertragen, allein hinter den Dornenranken zu sitzen. Also riss Kaia ihren ganzen Mut zusammen, um ihre strenge Großmutter danach zu fragen. Sie sagte: „Großmutter, warum kannst du mir nicht endlich sagen, weshalb wir hier als einzige in diesem Wald leben und warum diese großen Dornenranken den Wald umkreisen?“ Die Großmutter antwortete: „Ich habe dir doch gesagt, dass es gut ist, dass wir hier in diesem Wald allein leben. Da draußen hinter den Dornenranken lauern Gefahren. Ich will dich doch nur beschützen!“ Kaia wollte ihre Großmutter überreden und sagte: „Aber ich würde gerne sehen, was sich hinter den Dornen-ranken verbirgt. Vielleicht ein Dorf mit anderen Menschen? Ich könnte sogar Freunde finden.“ Die Großmutter erhob ihre Stimme: „Wir haben doch alles, was wir brauchen, und du hast mich. Du brauchst keine Freunde! Nur wir zwei sind eine Familie!“ Kaia rannte wütend aus der Tür und ging in den Wald, um sich von dem Streit zu erholen. Sie dachte über die Worte ihrer Großmutter nach und ihr wurde klar, dass sie ihrer Großmutter bestimmt sehr wichtig ist und sie doch eine Familie sind und zusammenhalten sollten.
Also beschloss Kaia, ihrer Großmutter ein paar Blumen zu pflücken. Sie merkte gar nicht wie weit sie von ihrem Haus schon entfernt war, und ging so tief in den Wald wie noch nie zuvor. Kaia wollte gerade wieder umkehren, da stand auf einmal ein großer, grauer Wolf vor ihr. Kaia erschrak. Doch ehe sie weglaufen konnte, krallte der Wolf sich ihren Arm. Er öffnete sein riesiges Maul und sagte ganz freundlich: „Hallo! Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr erschreckt?“ Kaia brachte kein Wort heraus. Sie verstand nicht, warum der Wolf sprechen konnte und er sie nicht gefressen hat. Der Wolf sprach weiter: „Ich warne dich! Hüte dich vor ihr!“ Kaia fragte: „Vor wem?“ Der Wolf sagte: „Vor deiner Großmutter. Sie wird etwas Furchtbares vollbringen. Du musst fliehen!“ Kaia fragte verwundert: „Meine Großmutter? Sie würde so etwas nie tun und außerdem möchte sie mich schützen.“ Der Wolf schaute Kaia in die Augen und sagte mit einer sanften Stimme: „Du wirst es noch verstehen und uns alle retten!“ Bevor Kaia noch etwas sagen konnte, verschwand der Wolf im dunklen Wald. Doch plötzlich spürte Kaia ein leichtes Kribbeln im Bauch. Es fühlte sich komisch an und irgendwie hatte sie das Verlangen, den Wolf wieder zu sehen.
Als sie zu Hause ankam, versuchte Kaia herauszufinden, ob ihre Großmutter wirklich etwas Furchtbares vorhatte. Kaia ließ ihre Großmutter glauben, dass sie schon schlafen würde. Einige Zeit später schlich Kaia sich aus ihrem Bett, um ihre Großmutter zu beobachten. Doch Kaia konnte sie nirgendwo finden. Auf einmal hörte sie eine leise, grausige Stimme, die aus dem Zimmer ihrer Großmutter kam. Kaia verstand nicht, denn dort hatte sie schon gesucht und sie war sich ziemlich sicher, dass dort niemand war. Doch Kaia war davon überzeugt, dass die Stimme aus dieser Richtung kam. Kaia folgte dieser und sie führte sie zu einem Teppich, der auf dem Boden lag. Kaia schob den Teppich beiseite und darunter befand sich eine Holztür. Leise öffnete sie diese und schaute hinein. Sie erblickte eine Leiter, die in die Dunkelheit führte. Ohne zu zögern, stieg Kaia diese vorsichtig hinunter und befand sich in einem großen, dunklen Raum. Am Ende des Raums konnte Kaia ihre Großmutter erkennen, die in einem Schaukelstuhl mit einem riesigen Buch saß. Schnell versteckte sich Kaia hinter einer Wand, um ihre Großmutter zu belauschen. Diese nuschelte leise vor sich hin: „Morgen, bei Vollmond ist es so weit. Achtzehn lange Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet.“ Kaia wusste nicht, was sie damit meinte, doch sie hatte genug gehört und wollte sich wieder davonschleichen. Als Kaia die Leiter fast erreicht hatte, knarzte plötzlich der Boden und ihre Großmutter blickte zu ihr. Kaia wollte die Flucht ergreifen, doch ihre Großmutter packte sie schlagartig an der Hand. Sie fragte mit strengem Ton:„ Was hast du hier zu suchen?“ Kaia antwortete aufgeregt: „Ich habe dich überall gesucht, weil…“ Kaia wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Großmutter sagte: „Du dachtest, du könntest mich reinlegen und ich würde nicht merken, dass du mich belauscht hast. Naja, du hättest es eh morgen von mir erfahren.“ Mit einem festen Griff zerrte sie Kaia nach draußen. Dort fesselte sie sie an einen Baum und lachte hämisch: „Wie hast du es herausgefunden? Ich weiß, dass es dir jemand anderes gesagt.“ Kaia log und sagte: „Niemand! Ich selbst!“ Die Großmutter antwortete grimmig: „Kleines, dummes Ding! Denkst du, ich glaube dir den Schwachsinn? Es war der Wolf, nicht wahr? Er hat es dir verraten. Nun, ich werde ihn morgen aufsuchen und er wird eine wahrhaftig harte Strafe erhalten. “Kaia schrie: „Nein, bitte nicht!“ Doch die Großmutter ignorierte sie. Die ganze Nacht war Kaia am Baum gefesselt und ihr war furchtbar kalt. Sie fühlte sich so einsam und gedemütigt. Am nächsten Tag war es genauso. Als die Nacht begann und der Vollmond in Kaias Gesicht leuchtete, kam ihre Großmutter mit dem riesigen Buch. Kaia fragte verwirrt: „Was machst du jetzt mit mir?“ Die Großmutter antwortete: „Ich werde dir deine Schönheit nehmen, indem ich sie dir mit meinem Zauberspruch aussauge. Der Zauber kann nur in einer Vollmondnacht erfolgen, wenn du achtzehn Jahre alt bist. Dieser Augenblick ist heute endlich gekommen. Kaia fragte: „Wieso tust du das?“ Die Großmutter entgegnete: „Weißt du, ich erzähle dir mal eine Geschichte: Früher lebte ich mit deinen Eltern in einem Dorf. Doch niemand wusste, dass ich eine Hexe bin. Ich wurde immer älter und auch meine Schönheit verschwand. Meine Haut war faltig und schrumpelig und ich konnte es nicht mehr ertragen so auszusehen. Also schaute ich im Zauberbuch nach. Als du geboren wurdest, fand ich einen Spruch, um deine Schönheit auf mich zu übertragen. Somit klaute ich dich und floh in den Wald. Anschließend umkreiste ich diesen mit Dornenranken, damit ich nichts schiefgehen sollte. Deine Eltern versuchten alles, um die Dornenranken zu durchdringen. Dies nervte mich, also beseitigte ich sie, und das gleiche werde ich mit dir tun.“ Kaia konnte nichts sagen. Nur eine Träne lief über ihre Wange. Als die Großmutter mit dem Zauber begann, sprang plötzlich der Wolf aus einem Gebüsch und durchschnitt Kaias Fessel mit seiner Kralle. Danach attackierte er die Großmutter. In dieser Zeit suchte Kaia einen Spruch im Zauberbuch, um ihre Großmutter zu besiegen. Schnell sprach Kaia einen Zauberspruch aus, der ihre Großmutter in Flammen setzte. Diese verbrannte und es blieb nichts mehr von ihr übrig. Geschwind lief Kaia zum Wolf und schloss ihn in die Arme. Mit einem Mal verschwanden die Dornranken und der verborgene Wald verwandelte sich in eine wunderschöne Lichtung. Kaia konnte es kaum glauben. Vor ihren Augen befand sich ein Dorf und die Menschen darin jubelten. Als Kaia sich zum Wolf umdrehte, stand plötzlich ein junger und gutaussehender Dorfjunge vor ihr. Kaia konnte es nicht fassen und hatte noch so viele Fragen an den Jungen: „Warum warst du ein Wolf? Wie heißt du eigentlich? Wir hatten uns gegenseitig noch gar nicht vorgestellt.“ Der Junge antwortete: „An dem Tag, als dich deine Großmutter in den Wald verschleppte, da war ich gerade Holz sammeln. Als ich wieder heimkehren wollte, war der Wald von Dornenranken umzingelt. Ich war der einzige Mensch im Wald, also verwandelte mich die Hexe in einen Wolf, damit ich dir nicht begegnen sollte. Als ich älter wurde, beobachtete ich dich oft, denn ich hatte mich verliebt. Eines Tages beschloss ich, dich zu warnen und den Rest kennst du ja schon. Und übrigens: ich heiße Arvid.“
Hand in Hand kehrten Kaia und Arvid ins Dorf zurück, wo sie sich nie mehr trennten.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.